WARDRUNA: „Birna“

WARDRUNA mit ihrem sechsten Album (Release 24.Januar 2025 via Sony Music und By Norse Music)
Nachdem WARDRUNA im Januar 2021 das Album „Kvitravn“ veröffentlichten und es online mit einem Studiokonzert unter dem Titel „First Flight of the Whtie Raven“ präsentierten, habe ich mich gefragt, in welche Richtung sie gehen und ob sie den animistischen Grundlagen noch mehr Raum geben werden.
In ihrer zwischen 2009 und 2016 veröffentlichten „Runaljód“ Trilogie, bei der sie jeder der 24 Runen des älteren Futhark ein Lied gewidmet und die poetische Tradition aufgegriffen haben, folgte 2018 „Skald“: akustisch, minimalistisch, mit Einar Selviks Stimme im Mittelpunkt. Ein poetisches Album, das sich respektvoll der alten Geschichten annimmt und etwas Neues daraus macht.

Von der poetischen Runentradition zu den Zyklen der Natur
Bei „Kvitravn“ haben sie mit einer Symbolik gearbeitet, die auf animistischen Traditionen basiert. Der weiße Rabe als prophetischer Bote, der Erneuerung bringt und Welten verbindet.
Und nun haben sie ihr Album „Birna“ (Bärin) gewidmet. In der nordischen Mythologie und Kultur spielt der Bär eine bedeutende Rolle. Er symbolisiert nicht nur Stärke und Wildheit, sondern auch Schutz und Verbindung zur Göttlichkeit. Er wird mit den Zyklen des Lebens, mit Wiedergeburt und Erneuerung in Verbindung gebracht. Während der Bär eher als ein wildes und in seiner Einsamkeit starkes Tier dargestellt wird, ist die Bärin ein Symbol für Wiedergeburt, Erneuerung und Fürsorge.
Der Rückzug in den Winterschlaf, in die Dunkelheit wird häufig mit dem Tod in Verbindung gebracht, und das Erwachen im Frühjahr mit Wiedergeburt und Erneuerung.Dieser zyklische Prozess des Bären spiegelt sich in der Natur in den Jahreszeiten und der damit verbundenen Erneuerung des Lebens wider.
Und in vielen Kulturen der Welt ist der Bär auch ein himmlisches Wesen (s. Sternbild) und der Hüter des Waldes. All dies haben WARDRUNA aufgegriffen und dem Bären eine Stimme geben.
Der Bär – ein kraftvolles, zyklisches Wesen
Das Album wird mit „Hertan“ eröffnet. Es geht um den Herzschlag, den Rhythmus des Lebens, seine konkrete Bedeutung als Ursprung aller lebenserhaltenden Funktionen, aber auch um die abstrakte Bedeutung als Lenker unserer Wünsche, unserer Entscheidungen und unseres Handelns.
„Hertan“ beginnt mit dem Rhythmus des Herzschlags, der von Trommeln geprägt wird. Sie erhöhen das Tempo, bis sich der klare Rhythmus in Atemlosigkeit auflöst. Der Atem ist neben dem Herzschlag das zweite Element, das dazu beiträgt, dass einem dieser Song so nah kommt. Der Atem ist in vielen Songs von WARDRUNA ein verstärkendes, akzentuierendes und strukturierendes Element. Beides zusammen, Atem und Herzschlag durch Trommel und Stimme, haben beim Hören des Liedes eine unmittelbare Wirkung auf den eigenen Herzschlag. Verstärkt wird das Ganze noch dadurch, dass der Gesang von Lindy-Fay Hella das Pulsieren spürbar macht, in dem die zentralen Aussagen des Textes mehrmals wiederholt werden.
Einar Selvik hat auch im Text zu „Hertan“ erneut Erzähl- und Reimstrukturen der skaldischen Dichtung aufgegriffen. Einige der Metaphern haben die Form von Rätseln, wie wir sie aus Märchen kennen: es ist aus Gold oder Stein, es tanzt wild ohne Füße, es bricht, ohne zu zerbrechen – was ist das wohl?
Andere Zeilen des Textes stellen die Beziehung zum Zyklus der Natur her. Es ist ein atmosphärisch dichter Einstieg ins Album.
Das folgende Lied „Birna“ lässt uns ein wenig zur Ruhe kommen. Lindy-Fay Hellas ätherischer Gesang schwebt über den Trommeln. Die mächtige Präsenz einer Bärin wird durch die Bronseluren unterstrichen. Der Herzschlag der Natur zieht sich durch das Lied und die ganze Stimmung lässt Kommendes erwarten.
Wenn die Kraft der Sonne nachlässt, werden auch die Lieder leiser

„Ljos til jord“ beginnt mit dem Fließen des Wassers. Dann setzt ein Frauenchor ein und der tiefe Gesang von Einar Selvik verbindet sich mit der Melodie der Flöte und den Trommeln zu einem dynamischen, schwungvollen Lied über den Kreislauf der Natur, die Kraft der Sonne und das Dunkel des Winters.
Das folgende „Dvaledraumar“ ist mit gut 15 Minuten das längste Stück. Es lässt sich viel Zeit, in der die Naturaufnahmen und die Klänge der Instrumente einen meditativen Rahmen schaffen. Einar Selvik erzählt in der Art der Skalden vom Hirten, der auf einem Bett aus Moos schläft und vom Sommer träumt.
Die Töne der Harfe und der aus der Ferne herüberwehende weibliche Gesang werden von den langsamen Herzschlägen des Schlafenden begleitet.
In „Jord til ljos“ gefällt mir die Flöte sehr gut. Sie klingt munter und bringt Bewegung in das Lied. Lure, Gesang, Saiteninstrument fügen sich währenddessen zu einem tiefen Grundklang zusammen.
Schritt für Schritt durch Dunkelheit und Licht

„Himinndotter“ ist ein bewegendes Lied, das mit einem Frauenchor (ganz wunderbar: KORET ARTEMIS) beginnt, der von der Suche nach der Bärenschwester und dem Bärenbruder singen. Zu den Trommelklängen ist wieder Lindy-Fay Hellas Stimme zu hören, die beschwörend singt. Ein Lied voller Gänsehautmomente.
Und dann folgt „Hibjørnen“ (der Bär, der Winterschlaf hält). Nur Einars Gesang, den er mit der Kraviklyra begleitet. Er greift die Erzählung aus „Dvaledraumar“ wieder auf und erzählt sie weiter: wie die Sonne sich ihren Weg bahnt, die Tage wieder länger werden und die Amsel den Sonnenaufgang besingt.
„Skuggehesten“ das Schattenpferd galoppiert federnd und rastlos durch das energische und dynamische Lied.
„Steh still und schlag Wurzeln“
„Tretale“ baut sich langsam auf. Hier spielt die Wiederholung eine wichtige Rolle dabei, die Intensität des Liedes immer weiter zu steigern, wobei eine enorme Spannung entsteht. Eine Stimme, die aus den Wurzeln kommt: die Stimme der Bäume. Mit Wurzeln, die Halt geben, wenn der Wind tobt. Einar Selvik betrachtet Wurzeln als essentiell für ein authentisches, bewusstes und mit der Umgebung verbundenes Leben. Sie geben Halt und wenn man sich mit den eigenen Wurzeln beschäftigt, kann man ein besseres Verständnis für sich selbst in seiner Umwelt entwickeln.
Das Album endet mit hypnotisch-meditativen „Lyfjaberg“. Das altnordische Wort ‚Lyfjaberg‘ bedeutet „Heilungsberg“. Lyfjaberg ist in der nordischen Mythologie ein Ort des Trostes und der Heilung von Krankheit und Sorge für die bringt, denen es gelingt, den Berg zu besteigen. Die Stimmung des Liedes macht die Anstrengung deutlich, die man braucht, wenn man einen Berg – ob nun konkret oder im übertragenen Sinne, hinaufsteigt.
Mit „Dieser Berg heilt alle, die ihn erklimmen“ enden Lied und Album
Fazit

Mit „Birna“ haben WARDRUNA wieder Geschichten über das Leben erzählt. Auch wenn sie traditionelle Elemente und Mythen aufgreifen, sind die Gedanken darin etwas, das jeden beschäftigt: Geschichten über Wiederkehrendes und Erneuerung, über unseren Platz in der Welt.
Mir hat gut gefallen, wie sie das Zyklische in der Musik umgesetzt haben. Sei es durch Wiederholungen, die immer eine gewisse Varianz haben, durch das Auf- und Abschwellen der Klänge. Aber auch wie „Ljos til jord“ und „Jord til ljos“ das Lied „Dvaledraumur“ einbinden und der Text dann bei „Hibjørnen“ fortgesetzt wird.
Der KORET ARTEMIS bringt neue Klänge mit hinein und die Naturklänge vervollständigen das (Klang)Bild.
WARDRUNA haben ihre Wurzeln in der Geschichte und in Traditionen, aber übersetzen sie in Konzepte wie die Beziehung des Menschen zur Natur und die Bedeutung von Zyklen in diesem Verhältnis und dem Leben im Allgemeinen. Einar Selvik hat sich immer wieder für die Bewahrung von Traditionen eingesetzt.
Bewahren heißt hier: eine Verbindung zu den Geschichten, Traditionen und Spiritualität unserer Vorfahren herstellen, damit diese zum Verständnis für die eigenen Identität wird und dabei hilft, die Gegenwart zu gestalten.
Neben der sowohl mächtigen, dynamischen als auch meditativen Musik haben mir die Texte gut gefallen (im Booklet gibt es auch eine englische Übersetzung). Die Erzähl- und Reimstrukturen wie in skaldischen Texten aber auch die oft unvollständigen Sätze und Andeutungen, die noch einmal zeigen, dass es WARDRUNA nicht darum geht, zu überzeugen, sondern ein Angebot zu machen und anzuregen.
Es gibt nur wenige Tiere, die so deutlich in Mythen und Traditionen präsent sind, wie der Bär. Wir Menschen haben in der Geschichte eine durchaus herausfordernde Beziehung zu ihm. Diese Geschichte haben WARDRUNA mit „Birna“ noch einmal anders erzählt.
WARDRUNA sind:
Einar Selvik – Gesang, Taglharpa, Kravik Leier, Bukkehorn
Lindy-Fay Hella – Gesang
Arne Sandvoll – Percussion, Hintergrundgesang
Sondre Veland – Percussion, Hintergrundgesang
Eilif Gundersen – Bukkehorn, Lure, Flöte, Hintergrundgesang
HC Dalgaard – Schlagzeug, Percussion, Hintergrundgesang
John Stenersen – Moraharpa
Und hier „Birna“ mit einem eindrucksvollen Video:
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Bildquellen
- BIRNA_cover_3000x3000: Sailor Entertainment
- Wardruna_Himminndotter_Lead_MortenMunthe_Full_1_ rev: Sailor Entertainment
- wardruna köln 2023.12: birgit@metal-heads.de
- wardruna nordic night 4 2.7.22: birgit@metal-heads.de
- wardruna birna rev: Sailor Entertainment
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