Interview mit ÁRSTIÐIR über Inspiration und Experimente

ÁRSTIÐIR sind eine Band aus Island, die in diesem Jahr ihr Album Nivalis auf den Markt gebracht haben. ÁRSTIÐIR zeichnen sich insbesondere durch ihre Instrumentierung aus, bei der sie neben ihrem grandiosen mehrstimmigen Gesang akustische Gitarre, Geige und Cello nutzen. Auf den letzten beiden Alben haben sie zunehmend elektronische Elemente verwendet. Die Band, deren Stil als Progressiv Rock und auch Islandic-Independent bezeichnet wird, ist Metalfans spätestens seit der Tour mit SÓLSTAFIR und MYRKUR bekannt.
Dazu, wie Metalheads auf ihre Musik reagiert und welche Erfahrungen sie mit dem deutschen Publikum gemacht haben, wie ihr Songwriting abläuft, welchen Einfluss ihre Heimat Island auf ihre Musik hat und ob der frühere isländische Präsidentschaftskandidat sie in ihrem Probenraum, der sich in einem stilgelegten Kohlekraftwerk befindet, besucht, habe ich ihnen ein paar Fragen gestellt. Lest, was sie geantwortet haben:
Ein isländisches Lied wird zum You-Tube-Hit
Wenn ich in Deutschland mit Leuten über ÁRSTIÐIR spreche, dann kommt schnell die Sprache auf das Video Heyr, himna smiður, das zu einem echten You-Tube-Hit geworden ist. Welche Rolle hat dieses Video für euch gespielt?
Als wir am Bahnhof gesungen haben, hatten wir kurz vorher in einem Musikclub in der Nähe gespielt und waren etwas beschwipst vom Bier. Also war das Ganze nur ein Zufall. Aber wir sind froh, dass es passiert ist, denn es hat viele Leute dazu gebracht, unsere Songs zu entdecken. Leute, die unseren Gesang mögen, mögen generell auch unsere Musik.
Isländische Bands scheinen vom deutschen Publikum grundsätzlich gut aufgenommen zu werden. In Reviews und Konzertberichten wird oft eine Verbindung zwischen der Natur Islands und der Musik der Bands hergestellt. (Ich denke, es ist eher selten, Bands aus Südeuropa oder Deutschland zu fragen, welchen Einfluss die Natur ihres Landes auf ihre Musik hat). Werdet ihr auch oft gefragt, ob die Landschaft oder das Klima Islands eure Musik beeinflusst? Und gibt es eine direkte Verbindung?
Ja, es ist eine Frage, die uns jedes Mal gestellt wird. Und das aus gutem Grund: Es gibt auf jeden Fall eine Verbindung. Unsere Landschaften sind in unserem Alltag immer präsent. Es gibt keine Stadt in Island, die groß genug ist, um den Blick auf die umliegenden Berge zu verstellen, also leben wir buchstäblich nah an und in der Natur.
Die Rolle der Jahreszeiten
Ihr habt euch ÁRSTIÐIR genannt. [Árstiðir = ] Jahreszeiten – diese haben mit Veränderung, Wiederkehr und Erneuerung zu tun. Welche Rolle spielen diese Aspekte in eurer Musik und in den Texten?
In unserem Fall hat der Name nicht zuerst mit dem zyklischen Aspekt der Jahreszeiten zu tun. Sondern vielmehr mit den verschiedenen Stimmungen, die sie mit sich bringen. Wir haben unsere Band Árstíðir genannt, weil unsere Texte auf Landschaften und Wetter verweisen, die als Metaphern für verschiedene Emotionen und Denkweisen dienen. Vor allem das Wetter und das Licht verändern sich in Island mit den verschiedenen Jahreszeiten drastisch und es beeinflusst die Art, wie wir in Island uns fühlen, denken und handeln. Und es beeinflusst die Art, wie wir unsere Musik schreiben.
Wie sieht das Songwriting bei euch aus? Wie sind die Aufgaben verteilt? Oder variiert das?
Alle drei Mitglieder sind Songwriter und wir alle tragen mehr Songs bei, als wir jemals in einem Leben veröffentlichen könnten. Wenn es an der Zeit ist, ein Album zu machen, schauen wir uns das Material und die Song-Ideen an, die inzwischen entstanden sind, und fangen an, gemeinsam an denjenigen zu arbeiten, die wir am liebsten mögen. Während des Aufnahmeprozesses können sich Songs durch verschiedene Arrangements und Instrumentierungen drastisch verändern. Bei diesem Prozess spielt eine große Rolle, dass wir immer wieder zu unserem Sound finden. Denn egal welche Instrumente wir verwenden oder welche Art von Songs wir schreiben, sie klingen eben immer wie ÁRSTIÐIR.
Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?
Wir trafen uns alle an der Universität, wo wir Maschinenbau, Recht und Literatur studierten. Unsere Liebe zu Gesang und Vokalharmonie hat uns musikalisch zusammengebracht, und nach ein paar Wochen Jamming und musikalischer Annäherung haben wir uns entschlossen eine Band zu gründen.
Kreativität der Isländer und unterschiedliche Projekte
Von außen betrachtet sieht es so aus, als würde jeder Isländer Musik machen und viele Leute in einer Band spielen. Ist das tatsächlich so? Spielt ihr auch jeder noch in einer anderen Band?
Also falls du jemals einen Isländer triffst, der nicht in einer Band spielt, ist er oder sie wahrscheinlich in einem Chor. Oder die Person wird zumindest Gedichte schreiben, malen oder Dinge entwerfen. Klingt wie eine Übertreibung, aber es ist verdammt wahr. Die Dynamik und Kreativität hier ist unglaublich und hat eine sehr dynamische und interessante Musik- und Kunstszene möglich gemacht. Die Musiker hier arbeiten in einer sehr engen Umgebung, und so kennt jeder jeden. Dies inspiriert zu vielen verschiedenen Konstellationen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Wir haben alle verschiedene Projekte neben ÁRSTIÐIR. Ragnar hat wahrscheinlich die meisten Projekte: Er ist momentan in fünf Bands aktiv und spielt auch als Session-Musiker z.B. für Bands wie Sólstafir.
Im Laufe der Zeit gab es Änderungen in der Besetzung der Band, in der Anzahl der Mitglieder und auch dabei, wer welches Instrument spielt. Welchen Effekt hatte das auf eure Musik?
Die Band hatte schon immer den gleichen Kern: Daniel, Gunnar und Ragnar. Wir haben die Band 2008 gegründet und sind nach zehn Jahren noch gemeinsam dabei. Über die Jahre sind weitere Mitglieder gekommen und haben die Band wieder verlassen. Und alle brachten interessante Ideen mit und hatten entsprechenden Einfluss auf die Band.
Die Rolle Deutschlands für die Erfolge von ÁRSTIÐIR
2010 seid ihr zum ersten Mal in Deutschland aufgetreten. Welche Erinnerungen habt ihr daran? Was hat sich für euch daraus ergeben?
Wir spielten auf dem Nürnberger Bardentreffen und hatten das größte Publikum, das wir bis dahin gehabt haben. Nach der Show verkauften wir direkt 400 CDs, und die Leute wollten noch mehr kaufen. Wir hatten also einen sehr guten Start in Deutschland. Kurz darauf gewannen wir in Plauen den Eiserner-Eversteiner-Preis [hier handelt es sich um einen europäischen Folk-Preis, der gemeinsam von einer Jury und dem Publikum vergeben wird]. So scheint es, als hätten wir schon immer eine gute Beziehung zu Deutschland gehabt und es war immer eine unserer Hochburgen, wenn es um Touren ging.
In den folgenden Jahren seid ihr mehrmals in Deutschland getourt. Unterscheidet sich das deutsche Publikum von anderen?
Das deutsche Publikum hat uns vom ersten Tag an mit offenen Armen empfangen und scheint immer leidenschaftlich und aufrichtig interessiert an unserer Musik zu sein. Wir sind sehr glücklich mit der Resonanz, die wir in Deutschland bekommen und freuen uns jedes Mal auf unsere Tour.
Welche Lieder werden besser aufgenommen: die mit isländischen oder mit englischen Texten?
Die Leute, die zu unseren Konzerten kommen, scheinen unsere isländischen Texte vorzuziehen.
Welchen Unterschied macht es für euch, ob ihr Isländisch oder Englisch schreibt / singt? Benutzt ihr die Sprachen jeweils für verschiedene Inhalte? Gibt es irgendwelche Themen, für die das Isländische besser passt als die englische Sprache?
Jeder in Island ist heutzutage quasi zweisprachig (die Menschen verbringen ihr halbes Leben im Internet auf Englisch), so dass wir uns in beiden Sprachen gut ausdrücken können.
In der Band entscheiden wir uns vorher nicht, ob wir auf Englisch oder Isländisch singen werden, und normalerweise kommen die Songideen entweder mit der einen oder der anderen Sprache. Manche Gefühle lassen auf Isländisch besser aus drücken, andere besser auf Englisch
Die Kickstarter-Kampagne und 1000 handgeschriebene Danksagungen
Euer Album Hvel wurde mit einer Kickstarter-Kampagne finanziert, die sehr erfolgreich war. Wie seid ihr auf diese Kampagne gekommen? Was hat sie für euch bedeutet?
2014 war das Crowdfunding-Format noch ziemlich neu und wir waren neugierig und wollten es einfach ausprobieren. Es stellte sich heraus, dass unsere Fans mehr als glücklich waren, uns zu helfen, und wir haben unser Ziel innerhalb weniger Tage erreicht und am Ende viel mehr Geld bekommen, als wir angesetzt hatten. Wir waren allerdings auch kreativ mit den verschiedenen Bonuszugaben: so gab es z.B. maßgefertigte handgestrickte isländische Wollpullover und Asche vom Eyjafjallajökull-Ausbruch. Und damit haben wir wohl ins Schwarze getroffen. Neben der Finanzierung von Hvel, hat die Kampagne uns auch gezeigt, dass wir eine riesige Fangemeinde in den Vereinigten Staaten hatten, weil etwa die Hälfte der Unterstützer von dort kam. Nach der Veröffentlichung von Hvel gingen wir für 6 Wochen auf Tour in die Staaten.
Habt ihr tatsächlich mehrere hundert Danksagungen von Hand geschrieben?
Ja, das haben wir wirklich gemacht. Und tatsächlich waren es fast 1000 Dankesschreiben. Dann mussten wir noch rund 400 handgeschriebene Texte fertigstellen. Und da du nur für ein oder zwei Stunden schreiben kannst, bevor deine Hände anfangen zu schmerzen, haben wir viele Wochen gebraucht, um diese Aufgabe zu erledigen.
Es dauerte vier Jahre bis zur Fertigstellung von Hvel. Hvel klingt schon anders als die vorhergehenden Alben. Diese Veränderungen – etwa die Rolle elektronischer Elemente oder Trommeln – habt ihr bei Nivalis konsequent fortgesetzt. Was sind die größten Unterschiede für euch?
Bei der Entwicklung von Hvel war ein großer Schritt für uns, elektronische Einflüsse mit unseren akustischen Instrumenten, Streichern und Stimmen zu mischen. Die richtige Mischung zwischen diesen zwei Ausrichtungen zu finden, ist schwierig, aber wir denken, dass wir wohl auf Hvel als auch jetzt auf Nivalis einen wirklich interessanten Sound geschaffen haben.
Musikalische Vielfalt und Experimente
Ihr hattet bereits einige der neuen Songs live auf Tour mit SÓLSTAFIR und MYRKUR gespielt. Welche Rückmeldung habt ihr bekommen? Und inwiefern habt ihr das Feedback berücksichtigt?
Das Feedback auf dieser Tour war fantastisch, vor allem, weil wir nicht zu unserem Kernpublikum spielten, sondern zu einem neuen Publikum, das wegen der Metal-Musik gekommen war. Die gesamten Rückmeldungen machten uns zuversichtlich, dass das neue Material auch unserem Publikum gefallen würde und so hatten wir ein gutes Gefühl, als wir nach der Tour wieder im Studio waren.
Experimentiert ihr gerne mit Musik?
Ja, und wir denken, es ist wichtig, immer zu experimentieren, um unsere Kreativität fließend und die Musik interessant zu halten. Songwriting ist ein organischer Vorgang und Songs sind ein lebendes Ding. Du weißt nie, wie sie enden werden, und so kannst du nicht anders, als mit den Songs zu experimentieren, bis Sound, Arrangement und Aufnahme richtig stimmen.
2016 habt ihr zusammen mit Anneke van Giersbergen das Album Verloren, verleden aufgenommen. Wie ist es dazu gekommen?
Anneke und wir haben 2013 die Acoustic Tour für PAIN OF SALVATION supportet. Wir wurden gute Freunde und begannen , auch auf der Bühne zusammen zu arbeiten. Zwei Jahre später kam Anneke auf uns zu, um ein Album mit neu interpretierten Versionen klassischer Songs zu machen, und wir freuten uns natürlich, wieder mit ihr zu arbeiten.
Ein stillgelegtes Kohlekraftwerk als Probenraum und andere Inspirationen
Ihr probt in einem stillgelegten Kohlekraftwerk. Wie seid ihr auf diesen Ort gekommen?
Das Kraftwerk Toppstöðin ist heute das Zuhause von Künstlern, Unternehmern und Start-up-Unternehmen, die die Räumlichkeiten für ihre Projekte nutzen dürfen. Wir sind einige der Glücklichen, die hereingelassen wurden, und es ist zweifellos der coolste Übungsort der Welt.
Ich habe gehört, dass auch Andri Snær Magnason sein Büro dort hat. Stimmt das? [Andri Snær ist Schriftsteller. Ich mag seine Bücher – deshalb war ich neugierig. Außerdem war er 2016 einer der Kandidaten der Präsidentschaftswahl in Island]
Andri Snær ist immer noch ein Teil des Vorstands von Toppstöðin und kommt oft zu Besuch oder um Leute herumzuführen.
Stehen die Industriemaschinen immer noch dort? Ist das eine inspirierende Umgebung?
Der Maschinenraum sieht genau so aus, wie er 1947 gebaut wurde, was sehr inspirierend ist. Wir haben dort sowohl Hvel als auch Nivalis geschrieben, und die Stahlkonstruktionen, Kohleöfen und Turbinen haben sicherlich dazu beigetragen, unseren Sound in Richtung eines elektronischeren Vintage-Sounds zu treiben (wir verwenden nur Vintage-Synthesizer wie Moog und Juno 106). Auch die Akustik dort ist wirklich gut und wir haben viele Videos und Live-Videos dort aufgenommen.
Industrielandschaft, die eher raue Natur Islands – aber eure Songs wirken eher melancholisch. Sind sie auch melancholisch für euch?
Ja, Melancholie ist in gewisser Weise DAS isländische Schlüssel-Element. Egal, ob du ÁRSTIÐIR, SÓLSTAFIR oder SIGUR RÓS hörst: es ist immer ein Echo dieser Melancholie in den Kompositionen zu spüren. Dramatische Landschaften, ob natürlich oder industriell, scheinen sie noch zu verstärken. Zumindest ist es bei uns so.
Habt ihr eigentlich einen Liebling unter euren Songs?
Wenn wir uns einen entscheiden müssten, dann denke ich, wäre es Shades von unserem zweiten Album. Er hat so ein originelles und treibendes Arrangement und der Song ist seit 2011 auf unserer Setlist.
Die Anfänge und die Zukunft
Sunday Morning war einer eurer ersten Songs und ist wahrscheinlich einer der meistgespielten Songs im isländischen Radio. Was bedeutet euch der Song heute?
Sunday Morning war die erste Single, die wir jemals veröffentlicht haben, bevor wir unser Debütalbum aufnahmen. Und als er zur Nummer eins wurde, bewies es uns, dass unsere Musik ein Ziel und ein potentielles Publikum hatte.
Wie wird es mit ÁRSTIÐIR weitergehen? Wo seht ihr euch in den nächsten Jahren?
Wir werden weiterhin auf der Suche nach dem perfekten Mix zwischen akustischen und elektrischen Klängen sein und Songs schreiben, die uns bewegen. Wir sind dabei und die Fans hoffentlich auch.
Gibt es ein Land, in dem ihr schon immer spielen wolltet?
Australien – denn wer möchte nicht nach Australien?
Mit welcher Band würdet ihr gerne auf Tour gehen?
Sagen wir einfach: Jonny Greenwood scheint ein netter Kerl zu sein. [Jonny Greenwood ist mehrfach ausgezeichneter Komponist und Musiker bei Radiohead]
Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt, die Fragen zu beantworten. Möchtest ihr unseren Lesern noch etwas sagen oder mit auf den Weg geben?
„Höre Musik, die du fühlst und fühle die Musik, die du auch hörst!“ Dann kannst du nichts falsch machen.
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Bildquellen
- Arstidir-forrest-002-01-Gaui_H_Pic: Seasons of Mist
- árstiðir hvel nivalis: Seasons of Mist
- ÁRSTIÐIR Bandfoto Stairs: Seasons of Mist
- árstiðir: Season of Mist pic by H. Sveinsson
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