ROTTING CHRIST: The Heretics (15.02.2019)
ROTTING CHRIST kenne ich nun schon viele Jahre. Sie haben ja inzwischen 30 Jahre Bandgeschichte hinter sich. Die letzten Alben haben mir gut gefallen. Sie haben mir – sowohl was die Musik als auch die Form der Auseinandersetzung mit den Themen – neue Blickwinkel und Anregungen geboten. So war ich gespannt darauf, ob ihnen dies mit The Heretics, wieder gelungen wird. Und ja – ohne groß voraus zu greifen: sie haben es wieder einmal geschafft. Allerdings nicht auf Anhieb, da viele Elemente etwas wie: „das habe ich doch schon mal irgendwo anders bei ROTTING CHRIST gehört“ auslösten. Doch je weiter ich in das Album hineinhörte, desto mehr geriet ich in eine Art Sog, so dass mich das Album nicht wieder losließ.
Lyrics und literarische Bezüge verbunden mit hervorragend ausgearbeiteten Melodien
Kaum einer Band gelingt es so gut, eine Balance zwischen bewährten, wiedererkennbaren und bandtypischen Elementen und neuem Material herzustellen, wie ROTTING CHRIST. Auch dieses Album trägt in Riffing und Rhythmus die deutliche Handschrift der Brüder Sakis und Themis Tolis. Sie haben Bekanntes mit aufregenden und interessanten Momente zu einem neuen Klang und Ausdruck verbunden.
Melodischer und rauer Black Metal
Schwere, voluminöse Riffs verbinden sich mit Blast Beast und rauem Gesang. Immer wieder gibt es wunderbare Leads und Gesangslinien. Dazu mächtige und prachtvolle Gesänge, die eine klösterliche Atmosphäre schaffen.
ROTTING CHRIST schaffen einen vielschichtigen und dabei satten Sound, mal aggressiv, mal ätherisch, dann wieder brutal.
Die Songs bewegen sich immer wieder zwischen epischen Klängen und unheilvoller Atmosphäre. Das Drumming ist rhythmisch abwechslungsreich: von hohem Tempo hin zu kriegerisch hart klingendem Trommeln. Manchmal einfach nur schön mit Vogelgezwitscher und dann wieder zerstörerisch und beängstigend.
Texte und Zitate moderner Freidenker
Besonders angesprochen haben mich die vielen Zitate von Schriftstellern und Denkern wie Dostojewski, Milton, Poe und Kazantzakis, um nur einige zu nennen. Eine nähere Beschäftigung mit dem gesamten Lyrik-Paket, der Themen und Symbole wird vielleicht noch weitere Überraschungen und Anregungen mit sich bringen.
Der Opener In The Name Of God beinhaltet bereits die Strukturelemente, die sich wie ein roter Faden durch das Album ziehen: die Spannung zwischen dissonanten und melodischen Teilen, der Wechsel zwischen rauem und cleanem Gesang, Einzelstimme und Chorus. Alles untermauert von einem Drumgewitter. Eine Stimmung von Verwüstung entsteht, aus der sich die Melodie der Gitarre wie eine Verheißung erhebt.
Unterstützt wird der Eindruck durch Zeilen von Fjodor Dostojewski: “Since man cannot live without miracles, he will provide himself with the miracles of his own making. He will believe in any kind of deity even though he may otherwise be a heretic, an atheist, and a rebel”
Vetry Zlye bittet um ein Gebet für die Erde, den Wald, das Feuer. Drums und Riffs klingen zunächst wie grollendes Gewitter. Der von GRAI-Sängerin Irina Zybina auf Russisch gesungene Refrain verweist auf böse Winde, die Seelen der Verstorbenen und die Hoffnung aus elenden Träumen zu erwachen.
The mind is universe and can make a heaven of hell and a hell of heaven
Heaven and Hell and Fire beginnt mit diesem Zitat aus Miltons Lost Paradise und Schreien, die wohl dieser Hölle entstammen. Der Song ist von harten Rhythmen geprägt. Er entfacht einen Wirbel an Riffs und Melodien, die so typisch für ROTTING CHRIST sind. Mit dem Ausspruch „My own mind is my own church“ von Thomas Paine, einem der amerikanischen Gründerväter endet dieser Song.
Hallowed Be Thy Name schafft eine unheilvolle düstere Atmosphäre durch das langsame Tempo und den Chorgesang. Richtig beklemmend wird’s zum Schluss durch beunruhigendes Flüstern, das unter die Haut geht.
In Dies Irae wird tatsächlich der lateinische Text des gregorianischen Chorals gesungen. Ein Motiv, das häufig in Requien (z.B. von Mozart) oder anderen Werken verarbeitet wurde, wenn auf das Gericht Gottes hingewiesen werden soll. ROTTING CHRIST entwickeln aus der Choralzeile eine eindringliche Dynamik.
Das ganz auf Griechisch gesungene I believe (ΠΙΣΤΕΥΩ) verwendet ein Zitat von Nikos Kazantzakis über die Lebendigkeit zwischen dunklen Abgründen und hellen Räumen. Hier geht es noch einmal richtig blackmetallisch zu und es gibt ordentlich was auf die Ohren.
Während ich noch dem Gedanken nachhing, auf welche subtile Weise gerade die Eindringlichkeit von Chorälen Meinungen und Wertungen transportieren kann, beginnt Fire God and Fear mit den Worten:
Those who can make you believe absurdities, can make you commit atrocities
Nicht nur dieses Zitat von Voltaire macht Fire God and Fear zu einem der besten Songs des Albums, sondern das fantastische Gitarren-Solo. Absolut hörenswert!
Voice Of The Universe wechselt zwischen Arabisch, Latein und Englisch. Dunkel, mit intensivem Drumming, das in spannungsreichem Kontrast zu dem steht, was die Gitarren produzieren. Hier ist Ashmedi von der israelischen Band MELECHESH als Gastsänger zu hören.
The New Messiah ist ein dynamischer Song mit einem überraschenden Einstieg, der wieder eine interessante Gitarrenarbeit vorbereitet. Der Song ist eine Warnung vor falschen Propheten, die uns in die Irre führen wollen. The New Messiah schafft einen guten Übergang zum abschließenden The Raven. Das basiert – wie ihr wohl schon geahnt habt – auf dem Gedicht von Edgar Allan Poe. Mir gefällt der Song, weil er eine Verbindung zu den vorangegangenen Songs schafft. Mit einem abschließenden schönen Solo wird man langsam aus dem Album entlassen.
The Heretics hinterfragt mit zunehmender Eindringlichkeit
Die anfangs geäußerte Kritik, dass einige Riffs und Leads an Vorgängeralben erinnern, tritt angesichts der sakralen Stimmung, der Eindringlichkeit und Anregungen, die Musik und Lyrics schaffen, weit in den Hintergrund. Ich freue mich auf weiteres Hören der Songs. Dabei werde ich sicher sowohl in der Musik, aber vor allen Dingen in den Texten, immer wieder Neues entdecken. Oder Zusammenhänge für mich erkennen, die häretischen Gedanken weitere Nahrung geben.
Auch wer sich nicht so für Texte interessiert, sondern vielmehr die Musik auf sich wirken lassen möchte, wird sich dem Sog und der Magie von The Heretics nicht entziehen können.
Zum Schluss der Song Heaven and Hell and Fire als Lyric Video
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Bildquellen
- rotting christ the heretics 1.19 season of mist: Season of Mist
- rotting christ the heretics cover: Season of Mist
- rotting christ the heretics cover: Season of Mist
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