Rückblick auf Musik aus Norwegen 2021

Musik aus Norwegen: Alben von WARDRUNA, Kjell Braaten, Lindy Fay Hella und GÅTE
Das Jahr neigt sich dem Ende zu – Zeit für einen Rückblick auf das, was 2021 musikalisch hervorgebracht hat. Und wie in jedem Jahr stellt sich die Frage, welche Alben in die Auswahl für den Rückblick kommen. Denn auch in diesem Jahr gab es – trotz der erneut schwierigen Bedingungen – so einige Alben, die mich auch in Zukunft begleiten werden.
In diesem Jahr habe ich mich für meinen Rückblick für Musik aus Norwegen entschieden. Da gab es neue Alben von bereits bekannten Bands, aber auch neue Projekte mit interessanten Konzepten.
Musik für und aus einer Welt, die wir mit unseren Gefühlen erkennen
Wie weit fühlen wir uns heute verwurzelt mit unseren Ursprüngen und getragen von überlieferten Geschichten? Wie weit können wir eine Verbindung zu diesen Ursprüngen in Natur, Gedanken, Empfinden, die in Sprache, bildender Kunst und Musik ihren Ausdruck finden? In den letzten Jahren hat sich der Eindruck, dass sich Lebensbereiche immer weiter voneinander entfernen, verstärkt.
Die Musiker, die ich heute im Rückblick aufgreife, haben sich in unterschiedlicher Weise damit beschäftigt, wie Natur und Kultur, Sprache und Musik, Bilder und Emotionen wieder miteinander verbunden werden können.
Neues, Modernes mit tiefen kulturellen Wurzeln
Die Alben, auf die hier jetzt noch einmal schauen möchte sind: „Kvitravn“ von WARDRUNA, „Bronseplassen“ von Kjell Braaten, „Hildring“ von Lindy-Fay Hella & Dei Farne sowie „Nord“ von GÅTE
Dies sind vier Alben, die von ihrer musikalischen Ausrichtung her kaum unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie etwas gemeinsam: sie verbinden (Ur-)Altes mit Modernem und lassen daraus Neues entstehen. Es sind alte Klänge und Geschichten, von denen diese Musiker sich angesprochen fühlten. Die grundlegende Frage dabei ist: woher kommt die Musik, die wir heute spielen und hören? Wo sind ihre Ursprünge? Und was sagen uns Musik und Geschichten heute?
Sie verwenden historische Instrumente zusammen mit modernen Instrumenten. Klänge, Töne, Melodien und Rhythmen, die die Menschen über Jahrhunderte weitergegeben haben, haben sie in moderne Musik umgesetzt. Dabei nutzen sie die technischen Möglichkeiten, die heute beim Aufnehmen und Mischen zur Verfügung stehen und erleichtern damit auch das Hinhören, Zuhören und Wiedererkennen.
Auf diese Weise sind Lieder und Alben entstanden, die an den Ursprung unserer Musik aber auch unseres Denkens und Fühlens zurückgehen. Dass wir uns heute noch davon berührt und angesprochen fühlen, bringt uns wieder in einen Zusammenhang und Kontakt zu den Menschen, die lange vor uns die Musik ins Leben gerufen und uns diese wunderbare Möglichkeit des Erlebens mitgegeben haben.
WARDRUNA: Lieder in den Dingen der Welt hören
„Kvitravn“ ist das fünfte Album von WARDRUNA. Sie verwenden historische Instrumente wie Rahmentrommel, Lure, Taglharpa, Leiern. Auch auf „Kvitravn“, wie bereits auf der „Runaljod“-Trilogie, sind die Klänge dieser Instrumente kaum bearbeitet. WARDRUNA nutzen aber technische Möglichkeiten und kommen so den aktuellen Hörgewohnheiten entgegen.
WARDRUNA arbeiten mit Symbolen animistischer Kulturen. So ist der Rabe das Symbol für Weit- und Voraussicht und zugleich ein spiritueller Vermittler, der Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Er leitet diejenigen an, die sich Wissen aneignen wollen.
Die Musik des Albums kann mit eindringlichen Melodien und Rhythmen in eine andere Dimension tragen. Sie machen spürbar, dass es keinen Anfang und kein Ende gibt, das Leben ein Kreislauf ist und wir mit dem verbunden sind, was uns umgibt: Singe, bis das Lied dich singt.
Hier das Video zum Titelsong „Kvitravn“
Die Sehnsucht und das Ursprüngliche in der Musik
„Bronseplassen“ von Kjell Braaten ist der Mitschnitt eines Konzertes von einem Ort, der nicht passender für diese Lieder sein kann: der Bronseplassen, mit Rekonstruktionen aus der Bronze- und sogenannten Wikingerzeit.
Kjell Braaten spielt auf Rekonstruktionen von Instrumenten, die der Zeit um 600 n. Chr. bzw. der Wikingerzeit und dem Mittelalter zugeordnet werden. Trommeln, Hörner und verschiedenen Leiern, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Formen und Saiten im Klang voneinander unterscheiden.
Schon allein durch seine warme und ausdrucksvolle Stimme gelingt es Kjell Braaten, den Hörer in seinen Bann zu ziehen. Für ihn ist Musik nicht allein Ausdruck von Emotionen. Er versteht Musik als eine umfassende Sprache, die Geschichten und (innere) Bilder schafft und übermittelt.
Auch wenn er historische Instrumente spielt: es geht ihm nicht darum, historische Musik zu machen. Die Instrumente verbinden ihn mit der Umgebung, aus der sie stammen.
Seine Lieder knüpfen mit ihren ergreifenden Melodien und Klängen an grundlegende Bedürfnisse und Emotionen an. Unter der Klarheit und Feinheit der Melodien kommt immer wieder Raues und Elementares hervor. Und so verbinden sich Helles und Dunkles, Feinheit und Ursprüngliches, Schweres und Spielerisches.
Schon bald wird er ein neues Album mit dem Titel „Blóta“ herausbringen. „Blóta“ bedeutet „Ritual“. Dazu sagte Kjell im Interview:
„Blóta“ ist mein Ritual, um über einige sehr verletzende Erfahrungen zu kommen, die mich lange Zeit gequält haben.
Dieses Album ist meine Reise durch diese dunklen Zeiten. Ich wollte sie dadurch zu einer Stärke machen und ihnen ihre zerstörerischen Kräfte nehmen.“
Bis es soweit ist, könnt ihr „Bronseplassen“ hier hören.
Als Beispiel das Video zu „Frigg“.
Klänge wie aus einer anderen Welt
Auch Lindy-Fay Hella & Die Farne haben mit „Hildring“ die grundlegende Frage nach unserer Verbundenheit mit Natur, und Vergangenheit gestellt.
Bei ihnen spielen Träume und Traumwelten eine wichtige Rolle. Und die Neugier auf das, was uns diese Träume, die Natur, die Vergangenheit und das Universum im Hinblick auf die Gegenwart bieten können.
Sie haben zur Auseinandersetzung mit diesen Aspekten eine recht ungewöhnliche Instrumentierung gewählt: Gitarre, Klavier, Hardanger Fidel, Harmonium, verschiede Percussions-Instrumente, Schlagzeug, Synthesizer – und Lindy-Fays Stimme. Sie will damit nicht nur Worte transportieren, sondern auch Gefühle, Staunen und Ehrfurcht gegen über der Natur.
Lindy-Fay setzt ihr Erleben der Natur mit herausfordernden aber auch mit umschmeichelnden Stimmungen um. Als ein besonderes Ausdrucksmittel nutzt sie den Joik, den traditionellen Gesang der Samen. Eingebettet in elektronische Musik, verbunden mit experimentellen Aspekten, ist ein facettenreiches Album entstanden.
Hier ein Beispiel: „Los“, das Lied vom Lodesmann, der die Seelen, die auf dem Meer verlorengehen, zum sicheren Ufer führt.
Traditionelle norwegische Lieder modern interpretiert
GÅTE haben auf dem Album „Nord“ auf traditionelle norwegische Lieder zurückgegriffen und sie neu arrangiert. Sie sind mit dem Liedgut einfallsreich und respektvoll umgegangen. Damit sind sie auch zu ihren eigenen musikalischen Wurzeln zurückgekehrt. Einige Lieder sind bereits auf einem ihrer früheren Alben veröffentlicht worden. Die jetzt entstandenen Akustikversionen sind in ihrer Klarheit eindringlich und intensiv.
Die Melodien und Texte verstehen GÅTE nicht nur als traditionelle Überlieferung, sondern gleichzeitig als aktuelle Themen. Deutlich wird dies in den Videos (z.B. zu „Svik“). Sie sind nicht nur mit heutigen technischen Mitteln inszeniert und umgesetzt, sondern auch mitaktuelle Symbolisierung.
Und hier das Video zu „Svik“.
Vier Alben – vier Konzepte – viermal wunderbare Musik
Unter diesen Alben kann ich nur schwer eine Rangliste erstellen. Dazu sind sie zu unterschiedlich. Angesprochen hat mich die Auseinandersetzung mit der Frage, woher kommt unsere heutige Musik? Was kann sie uns heute noch geben? Wo haben wir unsere Wurzeln?
Die Antworten, die die Alben geben, sind vielfältig und eröffnen somit unterschiedliche Zugangswege. Sie zeigen, dass auch aus der Rückbesinnung Neues entstehen kann. Und dass die Verbindung oder Verschmelzung alter und neuer Elemente Antworten auf aktuelle Fragen ermöglicht.
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Bildquellen
- Jahresrückblick 2021 Wardruna Kjell Braaten Lindy Fay Hella Gåte: By Norsk, Kjell Braaten Musikk, Indierecordings
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