LONG DISTANCE CALLING: Interview mit Jan Hoffman
Die einzige Konstante ist die Veränderung
LONG DISTANCE CALLING geben am 26. Juni 2020 ihr neues Album „How Do You Want To Live“ heraus. Dazu wollte ich ihnen ein paar Fragen stellen. Inzwischen haben Jan Hoffmann (Bass) und Janosch Rathmer (Drums) einen Podcast mit dem …..Titel „Lachend in die Kreissäge“ gestartet, in dem sie sich mit Gästen frei nach dem Motto: „erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ über Erfolge, Fehler, Krisen und Chancen unterhalten wollen.
So habe ich mit Jan nicht nur über das Album, sondern auch über Fehler und den Umgang mit ihnen gesprochen. Sowie darüber, welche Rolle dabei Neugier, Kreativität, Experimente und Progressivität spielen.
„Lachend in die Kreissäge“
Wie seid ihr darauf gekommen einen Podcast zu machen?
Janosch und ich sind beide fast schon podcast-süchtig. Wir hören sehr sehr viele Podcasts und ich starte fast jeden Tag mit einem Podcast. Dann kam die Idee, das auch mal selbst zu machen. Da wir viel miteinander quatschen und eigentlich täglich miteinander telefonieren, haben wir uns überlegt, diese Gespräche aufzunehmen und auch andere Leute dazu einzuladen. Podcast ist ein superschönes Format, weil man darauf wann man will und wo man will zugreifen kann.
Wie seid ihr auf den Titel gekommen?
Ich glaube, Janosch ist darauf gekommen, als wir überlegt haben, was eine gute Metapher dafür ist, wenn man Fehler oder Sachen macht, von denen man schon vorher weiß, dass sie nicht klappen können.
Fehler machen, der Umgang mit Fehlern: weshalb ist das für euch so wichtig, dass ihr das zum Thema gemacht habt?
Weil es spannend ist und wir gesehen haben, das erfolgreiche oder richtig gute Sachen manchmal eben daraus resultieren, dass man Sachen falsch gemacht hat, sie dann verbessert und es dann gut klappt. Außerdem ist die Selbstbeweihräucherung doch irgendwie uninteressant. Wir fanden es viel spannender, mal das Gegenteil unter die Lupe zu nehmen: wo hat man ins Klo gegriffen und was kann man im besten Fall daraus lernen und für die Zukunft besser machen.
Fehler, Krisen und die Einsicht, selbst Teil des Problems zu sein
Das ist ja ein vielschichtiges Thema: Fehler machen und daraus lernen, Krisen erleben daran wachsen. Dass man Krisen und Fehler nicht gleichsetzen kann. Und dann Aussagen wie: Scheitern ist doch was Gutes, weil man daraus lernen kann.
Ja, oft ist es so, das gesagt wird: alles super oder eben: alles Scheiße. Es ist schon so, wie du gesagt hast: eine Krise ist ja etwas, für das man selbst nichts kann. Für andere Sachen, kann man schon was, da es aktive Entscheidungen waren. Und Scheitern ist auch noch mal etwas anderes als einen Fehler zu machen. Aber vielleicht kann man dennoch aus beidem etwas mitnehmen. Beim Scheitern kann man eventuell später erkennen, an welcher Stelle man etwas falsch gemacht hat.
Manchmal können Fehler ja auch unterhaltsam sein. Also wenn man von außen betrachtet, welche Fehler andere machen, hat das unter Umständen auch einen unterhaltsamen Aspekt
Habt ihr in den Vorgesprächen auch schon darauf geschaut, welche Voraussetzungen man braucht, um aus Fehlern lernen zu können?
Dazu gehören sicher Einsicht und die Fähigkeit, sich auf neue Situationen einstellen zu können. Einsicht, also dass man realisiert: es war mein Fehler. Und sich dann fragt: wie kann ich es beim nächsten Mal anders machen? Das sind die Grundvoraussetzungen, sonst macht man immer wieder die gleichen Fehler.
Bei Krisen z.B. den Krisen wie Corona oder auch das, was zur Zeit in Amerika passiert, stellt sich ja auch die Frage, was man daraus für den Alltag mitnehmen kann. Für mich heißt das: man muss mit offenen Augen durch die Welt gehen und sich durchaus auch als Teil des Problems erkennen.
Der Kern von LONG DISTANCE CALLING
In dem ersten Gespräch, das du mit Janosch geführt hast, habt ihr darüber gesprochen, dass man Krisen rückblickend etwas Positives abgewinnen kann, wenn man durch sie herausfindet, was wichtig ist und was nicht. Ihr habt euch auch darüber unterhalten, weshalb die beiden Alben, auf denen ihr mit Gesang experimentiert habt, nicht so gut angekommen sind. Im Nachhinein schätzt ihr es so ein, dass ihr bei „The Flood Inside“ und „Trips“ kein klares Konzept hattet und das verwässert wurde, was LDC eigentlich ausmacht.
Was wurde da verwässert bzw. was mach LONG DISTANCE CALLING im Kern aus?
Der Kern unserer Band ist es, das wir die Stimme kompensieren, sie gar nicht wirklich brauchen. Dass wir in die Songs sehr viel mehr Details einweben, damit es interessant bleibt beim Hören, dass man Atmosphäre schafft und es gelingt, den Hörer auf eine Reise zu entführen.
Der Gesang auf den beiden Alben hat dieses Konzept insofern verwässert, als der Hörer durch den Gesang etwas vorgegeben bekommt. Denn wenn der Gesang vorne ist und die Band dahinter, kann man sich als Hörer nicht mehr so richtig in die Musik fallen lassen.
War das damals bei der Gründung von LONG DISTANCE CALLING eher eine Entscheidung, um das Instrumentale mehr zu betonen oder eine Entscheidung gegen den Gesang?
Das war am Anfang reiner Zufall. Wir haben ein paar Sänger ausprobiert. Das hat uns aber alles nicht so gepasst, auch da wir Vier einen unterschiedlichen Geschmack haben. Und dann haben wir das einfach sein gelassen. Wir haben erst mit der Zeit gemerkt, dass das eine Stärke ist. Es war also nie der Plan, eine Instrumentalband zu sein. Wir haben gemerkt, dass es so funktioniert und dies dann weiter verfeinert.
Bei manchen Bands ist der Gesang eher ein weiteres Instrument, als dass er den Text transportiert. Z.B. wenn gegrowlt oder in einer Sprache gesungen wird, die der Hörer nicht versteht. Was ist bei der Entwicklung von Songs anders, wenn auf Gesang verzichtet wird?
Das Songwriting ist anders. Bei einem Gesangssong musst du viel mehr Luft lassen, damit die Stimme mehr Platz hat. Bei Instrumentalsongs ist genau das Gegenteil der Fall. Du brauchst viel mehr Details, um die Aufmerksamkeit beim Hören oben zu halten.
Sicher kann die Stimme auch ein Instrument sein, aber dann muss der Rest doch mehr in den Hintergrund treten.
Das Verhältnis von Mensch und Maschine in unserem Alltag
Der Titel „How Do We Want To Live?“ ist in der aktuellen Situation genau die Frage, die wir umfänglich aber auch differenziert diskutieren sollten. Wenn man die aktuelle Situation anschaut oder Themen wie Umweltverschmutzung, Rassismus. Wie ist es dazu gekommen, dass ihr euch auf das Thema: Mensch – Maschine fokussiert habt?
Wir haben im September eine Keynote-Veranstaltung musikalisch begleitet, bei der es um Fragen wie Zukunft, künstliche Intelligenz ging. So sind wir darauf gekommen. Außerdem durch den Alltag mit Social Media und wie man damit umgeht, was möglich ist. Da kam dann die Frage auf: was will man im eigenen Leben an Technologie zulassen? Oder vielleicht sogar in sein Bett lassen, wie im Video „Voices“. Dann haben wir viel zu dem Thema recherchiert und uns damit beschäftigt.
Da du gerade das Video ansprichst: da nimmt das Ganz kein gutes Ende. Wie seht ihr das bei der Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Maschine: ist die Menschlichkeit durch die zunehmende Technisierung in Gefahr? Oder sollte man die Technisierung als Anlass nehmen, um darüber nachzudenken, was Menschlichkeit ist?
(Wer es noch nicht kennt, kann es hier anschauen.)
Ich glaube, dass es darauf ankommt, ob man sich damit beschäftigt. Für die Leute, die nicht darüber nachdenken, was da alles Einzug in unser Leben nimmt, wird es zunehmend technisiert und sie werden von der Technik vereinnahmt. Wenn man sich aktiv und kritisch damit auseinandersetzt, führt es meiner Meinung nach dazu, dass man verantwortungsvoller damit umgeht. Das ist wie mit schlechtem Essen oder Fast Food: wenn man sich damit beschäftigt, merkt jeder schnell: das ist nicht so geil, ich sollte mich mal anders ernähren. Aber für die, die nicht darüber nachdenken, ist es normal. Und so ist es auch mit Social Media. Das ist ja auch wie Fast Food – nur fürs Gehirn. Wenn man sich nicht damit auseinandersetzt, ist es gefährlich. Auch was die psychischen Folgen angeht. Wenn man sich damit auseinandersetzt, kann man den Umgang damit verbessern und verantwortungsvoller gestalten.
Musik, Artwork und Videos als Gesamtkonzept
Habt ihr Musik, Artwork, Videos aufeinander abgestimmt, um das Darüber-Nachdenken von verschiedenen Seiten anzuregen?
Das sollte diesmal noch mehr als sonst aus einem Guss kommen. Der ganze Überbau und die narrativen Elemente – das sollte alles aus einer Hand sein und einen roten Faden haben.
Ihr habt den Aspekt Kreativität im Zusammenhang mit Krise und Auseinandersetzung aufgegriffen. Wie sehr hat die Begrenzung, die sich aus der aktuellen Situation ergibt, eure Kreativität befördert? Ist ein Rahmen, eine Begrenzung für euch eine gute Möglichkeit, eure Kreativität zu entfalten oder fühlt ihr euch da eher eingeschränkt?
Sehr gute Frage! Die Musik war ja schon so gut wie fertig. Der eigentliche kreative Prozess war dadurch nicht eingeschränkt. Für das weitere Drumherum hatte es eine Bedeutung. Und im dritten Video wird man sehen, wie die Situation Einfluss genommen hat. Ich will da noch nicht zu viel verraten, aber das hat die Kreativität dann doch beflügelt.
Also ist schon so, dass Begrenzungen dazu beitragen können, der Kreativität einen Anschubser zu geben?
Auf jeden Fall, um sich noch mal mit anderen Sachen zu beschäftigen.
Die Beschäftigung mit anderen Sachen hat auch mit Neugier zu tun. Neugier habt ihr auf dem neuen Album auch in den Vordergrund gestellt. Euer Album beginnt ja quasi damit. Welche Rolle spielt Neugier für eure Kreativität? Was habt ihr Neues entdeckt, während ihr das Album geschrieben habt? An welche Veränderungen habt ihr euch angepasst?
Für uns ist Neugier fast das Wichtigste von allem. Wir sind alle Vier sehr neugierig. Als Band eben auch. Wir wollen immer Neuland betreten. Wir fangen immer bei Null an und wissen anfangs nicht, wie das Album klingt. Außer dass wir es nicht so hart haben wollten wie das letzte Mal und ein bisschen elektronischer. Wie das letztlich klingt und welche Mischung dabei herauskommt, weiß man vorher nicht. Wir haben viel rumprobiert, experimentiert. Und das tut einer Band einfach gut, nicht in so eine Formel zu verfallen und immer so das Gleiche zu machen. Da geht die Qualität einfach drastisch zurück meiner Meinung nach. Wir sind sehr neugierig und haben diese Maschinen mit einbezogen. Und da gibt es gar keine Limitierung. Im Gegenteil: da muss man sich selbst limitieren. Denn elektronische Sounds gibt es ja millionenfach. Da muss man dann ein Gefühl entwickeln: was will ich, wohin soll das gehen. Das ist eine riesige Spielwiese. Daher spielt Neugier bei uns eine große Rolle.
Die Experimente in der Musik
Und das Experiment anscheinend auch. Mit welchen Maschinen habt ihr experimentiert?
Mit verschiedenen Plug-Ins, der 808, aber auch mit echten Keyboards. Alles immer mit der Überlegung: welcher Sound ergänzt den Bandsound? Es war uns wichtig, dass alles homogen klingt. Dass der Bandsound fett klingt und dennoch natürlich und eine gute Räumlichkeit hat. Also dass sich die elektronischen Sachen gut einbetten und nicht wie ein Fremdkörper wirken. Und ich finde, dass das echt gut geklappt hat.
Nachdem, was ich bisher gehört habe, ist das gelungen. Die Elemente sind gut miteinander verwoben und es gibt eine Kontinuität in Bezug auf das, was ihr vorher gemacht habt. Auch für den, der euch schon länger kennt, nicht überfordernd. In letzter Zeit habe ich häufig gehört, dass Hörer gerne bei dem bleiben wollen, was sie kennen.
Ja und gerade in Deutschland ist das sehr schwierig. Die Deutschen sind sehr traditionell, was das angeht: bloß keine Veränderungen. Aber das ist einfach schwierig, denn die Welt verändert sich. Sonst gibt es einfach Stillstand. Und es gibt ja nichts Unkreativeres, Unprogressiveres – um mal beide Wörter, die unsere Musik beinhalten/beschreiben – als wenn man das Gleiche macht wie vorher. Das ist weder progressiv noch kreativ. Das ist einfach nur eine Wiederholung. Das ist auch völlig ok, wenn Leute das für sich wollen. Das ist ja auch eine Form von Sicherheit. Aber wir wollen das nicht, wir wollen uns ausprobieren.
„Selbst die Progressiven sind traditionell“
Ich finde es interessant zu hören, dass ihr es als progressive Band, bei der man ja eigentlich ein progressiv ausgerichtetes Publikum erwartet, auch so erlebt, dass die Leute es nicht so gerne haben, wenn ihr etwas verändert.
Ja, selbst die Progressiven sind traditionell. Wenn es um Progressives geht, dann muss man irgendwelche komischen Takte spielen. Aber das hat für mich nichts mit Progressiv zu tun. Das ist eine Stilrichtungsbezeichnung. Progressiv heißt: man geht voran und betritt Neuland. Das ist wirklich progressiv.
Ihr habt Neuland betreten und bezeichnet euer Album als „guten Begleiter für die aktuelle Lage“, da ihr viele jetzt relevante Aspekte berücksichtigt hättet. Ihr habt sie als „erschreckend relevant“ bezeichnet. Was ist so erschreckend relevant?
Z.B. die „Black Lives Matter“ – Geschichte: da machen Bilder sekundenschnell die Runde. Oder auch bei der Aluhut-Geschichte. In Bezug auf die „Black Lives Matters“ – Geschichte ist es ja gut, dass sich die Bilder so schnell verbreiten und viele Leute dafür einstehen. Bei der Aluhut-Geschichte war es ein erschreckendes Beispiel dafür, wie schnell Unwahrheit die Runde macht. So was ist erschreckend relevant.
Oder dass jetzt irgendwelche Leute in Berlin zu Tausenden ’ne Party feiern während Bands keine Konzerte spielen können. Nachrichten und Bilder machen schnell die Runde. Das führt dazu, dass man aufgeheizt ist. Ich habe mich mit meiner Oma darüber unterhalten. Sie sagt: „Die Welt ist so schlecht.“ Ich habe ihr gesagt: „Nein, das war schon immer so und außerdem gibt es viele schöne Sachen“. Aber der Mensch tendiert dazu, die schlechten Nachrichten in den Vordergrund zu stellen. Sowas macht jetzt schneller die Runde. Und man bekommt das heute nur alles mit, weil wir die ganzen Nachrichtenmedien haben. In der Masse führt das dazu, dass man den Eindruck hat, dass alles total scheiße ist.
Fortschritt liegt in der Natur des Menschen
Da schließt sich der Kreis zu eurem Podcast: die Dinge, die gut laufen, nimmt man als selbstverständlich hin oder sie werden „beweihräuchert“, wie du eingangs gesagt hast. Oder es wird überwiegend auf das geguckt wird, was nicht gut läuft. Ihr wollt mit dem Podcast auf das schauen, was sich aus dem, was nicht gut läuft eventuell doch noch Gutes ergibt, also die positiven Sachen in den Vordergrund stellen. So dass nicht nur das Negative in Erinnerung bleibt.
Es ist total wichtig, dass man auch die positiven Dinge benennt, die die Technologie hat. Denn sie hat ja nicht nur negative Sachen. Sie hilft uns schließlich auch im Alltag. Der Mensch neigt dazu, nur die schlechten Sachen zu sehen. Oder „früher war alles besser“. Das ist ja auch völliger Blödsinn. Ich finde Fortschritt schon toll, man sollte ihn wertschätzen und vorantreiben. Fortschritt liegt in unserer Natur, denn sonst würden wir immer noch in der Höhle sitzen.
Und trotzdem sehen viele Leute das sehr skeptisch.
Man allerdings hat auch das Gefühl, dass das alles viel zu schnell geht, die Entwicklung einen überrollt. Es geht immer schneller, mit immer krasseren Möglichkeiten. Was vor 10 Jahren noch für utopisch gehalten wurde, ist heute möglich. Ein Handy hat mehr Rechenleistung als die Computer, die für die Mondlandung genutzt wurden.
Ich sehe eine Gefahr darin, dass sich die Möglichkeiten, der Fortschritt verselbständigen und 90 Prozent der Menschen da nicht mitkommen. Das wird immer schneller gehen, so dass man zunehmend den Überblick verliert.
Schwierig ist auch, dass das Ganze entweder verteufelt oder in den Himmel gelobt wird. Vielleicht kann euer Podcast dazu beitragen, das Ganze wieder differenzierter zu sehen, die Leute wieder in die Mitte zu kriegen.
Das ist total wichtig. Was im Moment auffällt: dass die Menschheit wieder ganz schön aus der Mitte rausrückt und das Schwarz-Weiß-Denken, das Denken in Links und Rechts, die Extreme viel größer werden. Und ich glaube, dass diese Lagerbildung gefährlich ist. Und in vielen Bereichen ein gesunder normaler Umgang mit den Themen kaum mehr stattfindet.
Kunst als Motor für Reflexion
Also geht es darum, die Menschen mit verschiedenen Dingen dazu zu bringen, zu sehen, dass es nicht nur die Extreme gibt. Und dabei eine Auseinandersetzung und Differenzierung zu unterstützen. Es kann ja auch entlastend sein festzustellen, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt.
Ja genau und dass die Welt nicht so einfach ist. Das kann Kunst halt ermöglichen. Kunst kann das und sollte das auch tun: dass man die Leute zwingt zu reflektieren.
Das war ja auch das Ziel eures Albums: die Leute zum Nachdenken und Reflektieren bringen, unterstützt durch die Videos.
Ihr habt gesagt, dass ihr stolz auf das Album seid. Worauf seid ihr besonders stolz?
Dass es nicht so klingt wie das, was wir vorher gemacht haben, dass die Mischung total eigen ist. Mir fällt auch keine andere Band ein, die so klingt. Und das ist mit so das Schönste, das man erreichen kann. Und dass man trotzdem sofort erkennt, dass wir das sind. Das ist wie ein neues Make-Up: es steckt ja dennoch der gleiche Mensch darunter. und in der Art wie er sich bewegt – in diesem Fall: wie wir spielen – erkennt man sofort, dass wir das sind. Und wir sind stolz auf das ganze Konzept, das rund geworden ist.
„Es fühlt sich alles recht groß und vollständig an.“
Ich habe beim Zuhören viele neue Sachen entdeckt und dennoch hat sich direkt der Eindruck eingestellt, dass es zu den anderen Sachen passt, die ihr bisher gemacht habt. Es sind so viele Details, mit denen man sich beschäftigen kann und muss.
Das Album wird eine neue Tür aufmachen, denn es war uns wichtig, das Neuland auszuleuchten. Und wenn wir was machen, dann konsequent. Aber du hast Recht: man muss sich mehr damit beschäftigen. Beim ersten Hören ist man ein bisschen erschlagen von dem, was da an neuen Sachen ist. Man muss sich das erarbeiten. Aber man wird belohnt, weil es viel zu entdecken gibt. Man kann das nicht mal eben nebenbei hören, man muss sich schon darauf einlassen.
„Die Platte ist wie eine Welt, in der man sich erst mal zurechtfinden muss.“
Das passt ja dann wieder dazu, dass ihr selbst sehr neugierig seid und daher bei euren Hörern auch Neugier wecken wollt. Beim Hören merkt man, wie viel ihr ausprobiert habt und zu welchem Schluss ihr gekommen seid. Es spielt sicher auch eine Rolle dabei, dass das Neue deshalb gut funktioniert, weil auch etwas vom Alten dabei ist.
Ja genau, das funktioniert ohne einander nicht. Das Licht und Schatten – Ding bedingt sich einander. Du merkst ja nur, dass was neu ist, wenn das Alte als Kontrast dabei ist. Wenn sich das gegenübersteht, dann funktioniert das gut und kriegt eine gewisse Breite. Die Platte ist wie eine Welt, in der man sich erst mal zurechtfinden muss. Aber wenn man das verstanden hat, dann kann man sich da gut bewegen.
Es sind ja auch viele Gefühlswelten und Stimmungen auf der Platte, unterschiedliche Emotionen. Und das finde ich persönlich unheimlich spannend. Sehr düster und auf der anderen Seite total luftig und fluffig, mit fast poppigen Elementen. Dann ist es wieder sehr hart und dann wieder ruhig. Es ist wohl die abwechslungsreichste Platte, die wir gemacht haben.
Und dadurch ein Begleiter in der aktuellen Zeit gedacht, in der so viele neue Sachen passieren. Quasi als Hinweis: auch wenn einen das Neue fast erschlägt, das man noch mal hinschaut oder hinhört und sich fragt: was kenne ich denn schon? Als Orientierung und zur Sicherheit.
Genau. Das hast du perfekt erkannt. Man hat die Sicherheit, an der man sich festklammern kann, einen roten Faden, der einen durch die Platte führt. Aber links und rechts gibt es ganz viele neue Sachen. Aber man kann sich auch auf das konzentrieren, das man schon kennt. Jeder, der da eintauchen will, kann total viel finden. Ich habe gestern noch eine Review bekommen in der stand, dass es Spaß macht, wenn man anfängt, sich damit auseinander zu setzen, vielleicht sogar ein bisschen zu dem Thema zu recherchieren. Das muss man nicht zwingend, man kann sich auch nur auf die Musik einlassen. Es ist Substanz da für die Leute, denen es ausreicht, sich mit der Musik zu beschäftigen. Doch es ist auch noch was on top für die, die sich mit den Themen auseinandersetzen und in Details eintauchen wollen.
Sicherheit und Herausforderung
Die Spannung zwischen Bekanntem als Sicherheit und dem Neuen als Herausforderung ist schon interessant.
Man will die Leute ja auch nicht überfordern oder gar zwingen. Doch dadurch, dass der Albumtitel eine Frage ist, tun wir das unbewusst. Denn sobald man die Frage liest, fängt es doch schon ein bisschen an zu rattern. So dass man sich zumindest mit den grundlegenden Dingen beschäftigt: was will ich eigentlich, was will ich nicht, was macht mein Leben aus? Und wenn man dann noch richtig Bock hat auf so’n Nerdkram, findet man davon auch noch genug.
Bisher sind die Rückmeldungen auch gut. Auch wenn ich damit rechne, dass es auch Leute gibt, die damit überhaupt nichts anfangen können. Aber das ist ja auch ganz normal.
Und was ich ganz erstaunlich finde, da ich es von der Seite nicht erwartet hatte: auch die Besprechungen in den Metal-Magazinen sind positiv.
Wir haben ja vorhin schon darüber gesprochen, dass es Fans gibt, die immer nur das Gleiche hören wollen….
Naja das ist wie so ein Reinheitsgebot. Für meinen Papa ist z.B. Bier mit Limo schon fast so was wie Gotteslästerung, während es für mich ein superleckeres Radler ist. Das ist halt Geschmackssache.
Inzwischen gibt es unglaublich viele Genrebezeichnungen im Metal, die wohl immer dann entstehen, wenn Bands etwas Neues zu ihrer Musik hinzufügen. Und es gibt die Vergleiche: wenn du gerne Band XY hörst, dann wird dir auch Band Z gefallen…
Furchtbar. Außerdem: was sollte da bei uns stehen? Das ist ja eine so obskure Mischung von PINK FLOYD über KINGS OF THE STONEAGE mit KRAFTWERK. Das sind ja alles Sachen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Ich finde diese Einteilungen auch immer ganz schwierig. Aber Leute brauchen das zur Orientierung, damit man genau weiß, was drinnen ist. Aber ok: zur Einordnung hilft das. Doch letztlich muss sich jeder selbst ein Bild machen.
Und natürlich wollen wir das Genre, in das wir hineingepresst werden, ein Stück weiterentwickeln. Meist ist das ja Post Metal, Post Rock, Progressive Rock – wobei wir mit diesen Bezeichnungen wenig anfangen können. Dennoch ist uns schon ein Anliegen, dieses Genre ein Stück in die Zukunft zu führen, damit es nicht immer das Gleiche ist. Und wenn man als Band eine gewisse Position in diesem Genre hat, ist da vielleicht auch ein Stück Verantwortung, dass man das Rad ein kleines bisschen weiterdreht und sich eben nicht ständig wiederholt.
…..KATATONIA
Wenn du sagst, da kommen auch aus dem „Metalbereich“ erstaunlich gute Rückmeldungen….
KATATONIA haben unbewusst ja was ganz Ähnliches gemacht. Die neue Platte finde ich sehr sehr gut. Als ich die das erste Mal gehört habe dachte ich: oh das ist aber auch echt mutig, weil die ja superelektronisch ist. Da hört man ja zum Teil garkeine Gitarre mehr. Und die scheinen ja auch gut anzukommen. An der Platte sieht man, dass man auch mit anderen Stilmitteln Atmosphäre schaffen kann.
Oder gerade im Metal: was ist hart? Ist Black Metal, der manchmal klingt, als wenn ein Staubsauger die Treppe runterfällt, hart? Das hat für mich nichts mit Heavyness zu tun. Für mich ist die absolut härteste Band PANTERA. Aber auch das ist Geschmackssache. Auf der Platte, die wir jetzt gemacht haben, sind teilweise elektronische, ruhige Parts düsterer als jede Black Metal Platte. Man muss dafür nicht unbedingt eine Gitarre benutzen. Oder beispielsweise Filmsoundtracks, bei denen man sich fast in die Hose macht: da sind es die klassischen Instrumente. Die können auch eine fluffige Operette machen, aber eben auch super düsteres Zeug. Es kommt eben immer darauf an, wie man es macht.
Funk groovt so, dass es dem Körper gute Laune macht
Aber was macht einen Song „düster“? Sind es die Harmonien oder die Stimmung der Instrumente? Das ist ja auch eine Frage der Wahrnehmung.
SÓLSTAFIR z.B: die Musik wird von vielen Leuten als depressive Musik wahrgenommen, was bei mir nicht so ist.
Ja genau. Ich habe einen Kumpel, mit dem ich mich oft genau darüber unterhalten habe. Für uns ist melancholische Musik total schön, ich krieg‘ da gute Laune von. Es ist nicht so, dass mich das dann runterzieht. Im Gegenteil: Melancholie empfinde ich als schön. Das ist für mich eben nur eine andere Form der Schönheit. Das ist Ästhetik. Fröhliche Musik macht mich aggressiv. Da krieg ich die totale Krise. Nicht dass da was verwechselt wird: ich liebe es, zu lachen auch über totalen Schwachsinn wie Atze Schröder oder so. Aber in der Musik kann ich das überhaupt nicht haben.
Musik hat einen eher dunkleren Platz bei mir. Wenn ich lachen will, lese ich ein lustiges Buch oder gucke einen lustigen Film oder höre mir „Fest und Flauschig“ (Podcast) an. Aber in der Musik hat das für mich nichts zu suchen.
Die einzige Musik, bei der ich diesen lustigen Vibe in Ordnung finde, ist Funk. Das ist die Ausnahme, denn das groovt einfach so, dass es dem Körper – ob er will oder nicht – gute Laune macht. Der Rhythmus ist so unmittelbar, dagegen kannst du dich nicht wehren.
Das Atmosphärische finde ich spannend, da ich da viel weniger abschätzen kann, was kommt.
Ja, genau, Unberechenbarkeit ist wichtig und die Überraschung.
Die Neugier braucht also Überraschung
Ja so ist das. Und das ist mir besonders bei „Hazard“ aufgefallen: das ein bisschen Freche: was nicht passt, wird passend gemacht. Der Song fängt fast wie ein POLICE-Song an, so poppig, 80er Rock-Pop und am Schluss ist der voll hart. Und das machen wir immer, dass wir Sachen, die auf den ersten Blick nicht so zusammenpassen, zusammenbringen kann, wenn man hinschaut, wo oder wie sie dann doch zusammenführen kann. Und der Song dann ganz woanders aufhört als er angefangen hat. Das finden wir halt total spannend.
Gefühlsachterbahn statt Dystopie
Du hast am Anfang gesagt, dass ihr alle sehr neugierig seid, offen für Experimente. Da ist es schon schlüssig, dass dann so etwas dabei herauskommt.
Ja, klar, aber es ist teilweise schon echt frech vom Songwriting her. Nehmen wir mal den Song „Skydivers“ von der letzten Platte. Der ist im Prinzip fast ein Black Metal Song mit einem PINK FLOYD – Part in der Mitte. Das macht ja erst einmal überhaupt keinen Sinn, dennoch passt das voll gut zusammen. Da ist es dann mal luftig und dann wieder totales Geballer. Und das passt dann. Denn Stimmungen wechseln bei jedem Menschen mehr oder weniger im Laufe des Tages. Es wäre ja auch voll langweilig, wenn das immer so die gleiche Stimmung wäre. Von daher versuchen wir, alle Stimmungen abzudecken. Auf der neuen Platte ist es die Hoffnung, die immer wieder durchschimmert obwohl es so düster ist. Das war uns auch wichtig, dass es nicht nur eine Dystopie ist, sondern man eine Gefühlsachterbahn hinter sich hat, wenn man mit der Platte durch ist. Das war so der Plan.
Ja, da ist eben eine ganze Menge auf einmal und dann noch sehr unterschiedlich.
Es soll halt fordern.
Das Album ist schon eine Herausforderung. Aber eben auch spannend und man kann viel mitnehmen, wenn man sich darauf einlässt.
Die Leute, die eure Musik schon länger hören, kennen das ja schon, dass man sich auf eure Musik, eure Ideen einlassen muss.
Ja, die wissen ja auch was kommt. Das ist auch für unsere Plattenfirma immer so ein Problem. Die sagen: man weiß bei euch echt nie, was da kommt. Plattenfirmen wollen sonst ja immer alles auf Nummer sicher. Nach dem Motto: die letzte lief doch so gut, dann macht das doch wieder wie beim letzten Mal. Unsere Plattenfirma vertraut inzwischen darauf, dass wir wissen, was wir machen. Die einzige Konstante ist die Veränderung bei uns. So sind wir halt.
So, bevor wir hier zum Schluss kommen: wie geht es mit dem Podcast weiter?
Wir versuchen das so alle 14 Tage zu machen, das ist ein guter Rhythmus.
Habt ihr schon weitere Gäste eingeladen?
Die werden wir nicht verraten aber wir haben noch ein paar Leute in der Pipeline
Dann danke für das Gespräch und die Einblicke! Und wie ich erfahren habe, wird es eine Release-Show geben.
Am 26. Juni erscheint unser neues Album und das wollen wir natürlich mit euch feiern. Und zwar am 2. July in der Autoarena in Oberhausen.
Mehr Infos zur Release-Show findet ihr hier. Mehr zum Album an dieser Stelle
Eine Review des Albums „How Do We Want To Live?“ folgt in den nächsten Tagen. Also schaut immer mal wieder rein.
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Bildquellen
- lachend in die kreissäge: Long Distance Calling
- long distance callilng: Head of PR, Foto: André Stephan
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- long distance calling how do we want to live cover: Anger Management & Promotion
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- Long Distance Calling 18.01.18 Essen Turock: (c) Chipsy-Karsten Frölich/www.metal-heads.de
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